Es war wieder Zeit, unsere Bäume im Garten zu schneiden. Wenn ich darüber schreibe, so nicht etwa, weil ich ein kompetenter Baumpfleger wäre. Von Beruf bin ich Lehrer und Erzieher, oder besser «Schulmeister», und Bäume schneiden kann ich nicht, ohne ständig Vergleiche anzustellen.
Apfelbäume schneiden wir, damit sie mehr Ertrag abwerfen. Das ist das eine. Ohne unser Eingreifen treibt der Baum viel zu viele Äste, lässt Wasserschosse in die Höhe schiessen, macht ein Wirrwarr im Geäste, und dem Blust und den Früchten fehlts dann an Luft und Sonnenlicht. Wir begünstigen jene Triebe, welche Früchte ansetzen werden, und kappen das leere Gezweige. (Fast wie in der Schule. Nur: was ist dort der Ertrag? Misst er sich etwa gar am Übertrittsquotienten?) Anders als bei den Bäumen des Obstbauern, bei dem der Ertrag ein Teil seines Einkommens ist, ist er bei meinen Gartenbäumen eher unwichtig. Ich schaue daher noch auf anderes beim Schneiden: So soll der Baum eine schöne Form haben. Was heisst «schön»? Was das Wesen des Apfelbaums ist, dem möchte ich entsprechen. Mit dem Schnitt möchte ich dieses Wesen möglichst wenig verfälschen. (Wiederum nicht viel anders als in der Schule.)
Da gibts noch weitere Gesichtspunkte. Ich hasse es, gebückt durch den Garten gehen zu müssen. Äste meines Apfelbaums, die mein aufrechtes Schreiten behindern, schneide ich erbarmungslos ab. Ebenso oben: Ich will mir nicht eine weitere Leiter anschaffen müssen. Was also zu hoch ist, über meiner Reichweite, das muss weg. Ich rechne das unter die gute alte Beamtenmentalität: die Regeln sind darauf ausgerichtet, ob der Vollzug effizient möglich ist. Erlaubt ist, was kontrolliert werden kann. Halt, da ist noch was: Neben dem Apfelbaum steht ein junges Kirschbäumchen. Soll ichs drauf ankommen lassen, ob es sich behaupten kann neben dem erwachsenen Kerl? Oder soll ich nicht auch noch das Gedeihen des Kleinen im Auge haben? Nun kommen die Kinder aus dem Haus gerannt: Einen bestimmten Ast inmitten der Krone, der quer aus der Mitte heraussteht, soll ich auf keinen Fall absägen. Denn ohne diesen könnten sie nicht mehr in den Wipfel hinauf klettern, von wo aus es sich so schön über die Nachbardächer schauen lasse. Und dann sei da noch jener alte, dicke Seitenast, an dem wir doch im Sommer die Gireizi aufgehängt hätten. Ob ich auch daran gedacht habe? Ja, da kann noch mancher kommen. Etwa die Vögel. Sie hätten es wohl lieber, wenn ich den Baum frei drauf los wachsen liesse. Aber sie sollen sich nicht beklagen. Für sie wächst eine lange, wilde Hecke am Rand des Gartens.
Trotzdem die Frage: Ist es wirklich nötig, die Bäume zu schneiden? Könnten wir nicht einfach alles dem freien Wachstum überlassen? Da gibt es doch jenes Prinzip der sich selbst regulierenden Natur. «Retour à la nature.» Aber Rousseau war ein Bewohner der Städte. Menschen, die inmitten der Natur aufgewachsen sind, im Angesicht des grünen Riesen, die ihre Äcker und Wiesen der Wildnis abgetrotzt haben, sie sehnen sich nach gepflegten Gärten, nach Einfriedungen. Die romanischen Klöster des Mittelalters mit ihren dicken Mauern scheinen mir aus dem Bedürfnis entstanden zu sein, Orte der Stille zu schaffen, Orte des Friedens, ohne den täglichen Kampf gegen Bären und Brombeeren. Gärten als gezähmte Natur. Auf die Spitze getrieben haben es die französischen Gartenarchitekten. Sie haben die Pflanzenwelt der Geometrie unterworfen, dem rechten Winkel und den elementaren Formen von Quadrat, Kreis und Ellipse. Und heute: Wer lange genug auf all den Verbundsteinweglein und abgezirkelten Trottoirs und asphaltierten Feldwegen gegangen ist, sehnt sich wieder nach Wildnis, nach Trampelpfaden und frei wuchernder Natur. Wie halten wirs denn mit den Kindern, die uns anvertraut sind? Möchten wir sie eher wie die lebensstrotzenden Brombeeren haben, oder versuchen wir sie doch lieber wie jene Spaliere zu ziehen, welche saftig-süsse Birnen tragen, aber ihre Birnbaumgestalt so gänzlich eingebüsst haben? Ist es nicht unverkennbar, wie auch in dieser Frage im Lauf der Zeiten die Vorlieben hin und her pendeln. So schneide ich also meinen Baum, unfachmännisch, aber im Versuch, vielen verschiedenen Bedürfnissen gerecht zu werden, vor allem aber im vertrauen, dass sich zuletzt die Natur ohnehin behaupten wird. Einmal im Jahr schneiden wir die Bäume, im Vorfrühling. Das übrige leisten Sonne, Wind und Regen. (Bei der Kindererziehung dagegen meinen viele, sie müssten täglich schnipseln. Überhaupt ist es meine Beobachtung, dass zu viel Zeit und Energie darauf verwendet wird, Negatives zu «korrigieren», statt darauf, Positives zu unterstützen.)
Hast du noch Platz im Garten für ein Apfelbäumchen? Gib ihm eine Chance, gib ihm das Plätzchen. Es wird sein eine Quelle der Freude: Der blust im April, der Schatten im Sommer, die Früchte im September, die eifrigen Vögel das ganze Jahr hindurch. Und wenn du manchmal nicht weisst, was trinken in der Wirtschaft, so nimm einen Süssmost oder ein Shorley, du leistest damit einen winzigen Beitrag, dass unsere Landschaften nicht noch weiter ausgeräumt werden, weil das Mostobst keinen Absatz mehr findet. Der Saft wird dir wie Riesling die Kehle hinab rieseln. Kürzlich habe ich gelesen – und es hat mir eingeleuchtet – die täglichen zwei Äpfel deckten nicht nur den so wichtigen Bedarf an Vitamin C, sondern enthielten auch fünfzig weitere Stoffe, deren Wichtigkeit die Wissenschaft bisher noch kaum erforscht habe.
So, unser Apfelbaum ist geschnitten. Jetzt muss ich noch die Äste auflesen.
Alfred Vogel
Lehrer und Musiker, 1968-72 Lehrer in Thalheim und 1972-80 im ehemaligen Schulhaus Gütighausen, heute wohnhaft in Marthalen.