Zurzeit berichten die Medien fast ausschliesslich von der gefährlichen Coronavirus-Pandemie – zuerst ein fremdes Phänomen aus dem fernen China, dann hier und jetzt eine konkrete Lebenssituation für uns alle. Im vergangenen Winter lasen wir in den Zeitungen hingegen über Wochen von den ungewöhnlich heftigen Waldbränden im südamerikanischen Amazonas und in Australien, Regionen am anderen Ende der Welt. Aber auch in unseren Alpen schmelzen die Gletscher seit einigen Jahren in rasantem Tempo, der jahrhundertealte Permafrost taut auf und hier in Thalheim und Gütighausen waren die Sommer 2015, 2018 und 2019 aussergewöhnlich heiss. In den letzten Wintern fiel im Mittelland kaum Schnee, die hiesigen Wälder litten sichtbar unter der Trockenheit, die Stürme im Januar und Februar taten das ihre.
Der Klimawandel ist spätestens seit letztem Jahr in den Medien äusserst präsent. Allenthalben sprechen gewisse Leute deshalb auch von einer «Klimahysterie». Ich habe im Pressearchiv des Schweizerischen Sozialarchivs in Zürich, wo ich die Abteilung Dokumentation leite, ein bisschen recherchiert und festgestellt, dass die «Klimaveränderung» nicht erst seit Neustem, sondern schon seit 60 Jahren ein brennendes Thema ist.
Der allererste Artikel in der Zeitungsausschnittsammlung des Sozialarchivs zum Thema Klimaveränderung stammt aus der Schweizerischen Allgemeinen Volkszeitung und datiert vom 5.12.1959:
«Seit Jahren scheinen auf der Erde die Jahreszeiten etwas durcheinandergeraten zu sein. […] Überschwemmungen, unsaisongemässe Hitze- oder Kälteperioden werden häufiger. […] Die stetig zunehmende Abgabe von Verbrennungsrückständen aus Kaminen und den Auspuffrohren von Motoren ist die unmittelbare Ursache davon! Bisher wurde das Kohlendioxyd durch den Atmungsprozess der Pflanzen sowie durch die Verwitterung des Gesteins unserer Atmosphäre wieder laufend entzogen. So hielt sich der Kohlensäure-Anteil der Luft bis zum Beginn des Industriezeitalters auf 0.03 Prozent. Seit 1900 hat sich das aber wesentlich geändert: Es wurden über 100 Milliarden Tonnen Kohle verbrannt, und der jährliche Benzin- und Ölverbrauch liegt heute bei 700 Millionen Tonnen! Und er steigt noch ständig. Das hat zur Folge, dass der natürliche Ausgleich durch Pflanzenatmung und Verwitterung nicht mehr genügt und sich der Kohlensäuregehalt der Luft ständig erhöht.
[…] Leider verändert sich aber nicht nur die Zusammensetzung der Atmungsluft. Viel schlimmer ist die dadurch verursachte grössere Isolierfähigkeit des sogenannten ‹atmosphärischen Spiegels› […]: Durch den höheren Kohlensäuregehalt, der besser isoliert, baut sich in der Höhe der Stratosphäre langsam eine Art Treibhausdach um die Erde, unter dem die Temperatur langsam, aber sicher steigt. […] Solche klimatischen Veränderungen sind nichts Neues in der Erdgeschichte: In Epochen mit starker vulkanischer Tätigkeit […] trat starke Erwärmung ein – wenn die Vulkane ruhten, Eiszeiten. […] Dafür brauchte es allerdings Jahrtausende. Aber heute ist das anders. Der Eingriff des Menschen verändert die Temperaturverhältnisse weit rascher. So ergaben Messungen einen Temperaturanstieg seit 1900 von 1.22 Grad. Das erscheint wenig, wurde aber in nur 60 Jahren zustande gebracht! Und was, wenn die Ursachen noch in beschleunigtem Tempo ansteigen?
[…] Messungen der Meeresspiegel an der atlantischen und pazifischen Küste ergaben (aufgrund der schmelzenden Pole) eine Erhöhung des Wasserstandes in den letzten Jahren von 25 Zentimeter. Diese Messungen geben zu denken. Die Menschen haben es in der Hand, Massnahmen zu ergreifen – hoffentlich nicht erst, wenn ihnen das Wasser, wortwörtlich, am Halse steht!»
24 Jahre später, am 29.11.1983, beschreibt ein NZZ-Artikel die Situation nicht viel anders, als sie heute, wiederum 37 Jahre später, in den Medien dargestellt wird:
«[…] die CO₂-Forscher sind sich einig, dass Veränderungen des Klimas auf dem ganzen Erdball stattfinden werden bzw. schon im Gange sind. Dazu zählen extreme Temperaturverhältnisse, Trockenheit, anhaltende, zu Überschwemmungen führende Regenfälle, Stürme usw. verbunden mit schweren Ernteverlusten.
Ebenfalls einig scheinen sich die Wissenschafter über die kurzfristig weltweite Bedrohung der Menschheit durch Hungersnöte zu sein. Für die Ausarbeitung einer Lösung stehen sie zunehmend unter Zeitdruck.»
Um CO₂ auf natürliche Weise zu binden, sei die Bewahrung bzw. Erhöhung der Waldbestände anzustreben. Allerdings fiel dieses Ansinnen mitten in die Zeit des «Waldsterbens», durch welches im Gegenteil noch zusätzliches CO₂ in die Atmosphäre gelangte. Damit nicht genug:
«Dieser Vorgang droht sich zu verstärken durch Waldbrände, indem die kranken Bäume während längerer regenfreier Perioden austrocknen und anschliessend durch Blitzschläge entzündet werden.
[…] Es steht sicher ausser Zweifel, dass der Kampf um das Überleben diesmal an allen Fronten geführt werden muss, denn der Patient ist schwer krank, braucht ein Mittel zur Genesung, geeignete Umstände zur Erholung und die nötigen Voraussetzungen zu einem weiteren Leben, das seiner selbst noch wert ist.»
Aus zahlreichen weiteren Artikeln von Mitte der 1980er Jahre geht hervor, dass die wissenschaftliche Ausgangslage bekannt und die dramatischen Folgen der unkontrollierten Klimaveränderung weitestgehend erkannt waren, auch wenn die Datengrundlage zu dem Zeitpunkt noch nicht so solid war, wie sie es heute ist. Eindringlich warnen die Berichte vor dem Nichtstun bzw. vor dem Zu-spät-Kommen von Gegenmassnahmen. Bereits in den 1980er Jahren war auch bekannt, dass ein einmal eingeleiteter Prozess der Erwärmung für viele folgende Jahrzehnte unaufhaltbar und unumkehrbar ist, und dies, bevor überhaupt für jedermann spürbare Störungen wahrnehmbar sind (z.B. Vaterland, 17.10.1986). Umgekehrt konnte wissenschaftlich lange Zeit nicht belegt werden, dass mess- und spürbare grossräumige Änderungen des Wetters, etwa der Niederschlagsverteilung, mit dem Anstieg von CO₂ in der Atmosphäre in einem Zusammenhang stehen (Tages-Anzeiger, 29.9.1987). So erschien die Klimaveränderung entweder als zu abstrakt oder das klimawandelbedingt veränderte konkrete Wetter nicht als wissenschaftlich beweiskräftig. Anlässlich der Weltklimakonferenz in Toronto im Sommer 1988 hielt der Tages-Anzeiger (18.8.1988) zur daraus resultierenden Handlungsblockade jedoch fest:
«Wo sich der politische Wille regt, beginnt auch der Streit um konkrete Massnahmen. Das hat sich in Toronto gezeigt. Und wo Politiker den Schwarzen Peter wieder an die Wissenschafter zurückgeben, verliert man unnötig Zeit für den Entwurf von Gegenstrategien. Die wissenschaftlichen Kenntnisse um die Klimabedrohung sind genügend gesichert. Zum Handeln muss man nicht noch mehr wissen.»
Und die NZZ schrieb am 4.3.1989:
«Auch wenn es nicht mehr möglich ist, alle Schäden zu vermeiden, muss doch alles getan werden, sie möglichst klein zu halten und die eigentliche Klimakatastrophe zu vermeiden. Internationale Abmachungen müssen trotz den vielfältigen entgegengesetzten Partikularinteressen rasch erarbeitet werden.»
Hatten Sie bei der Lektüre der zitierten Zeitungsartikel auch schon ein paar Déjà-vus? – Seit diesen Appellen sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen, während derer die Politik gegen die Macht dieser «Partikularinteressen» nahezu machtlos geblieben ist. Dabei wären die «Anforderungen an eine Klimapolitik» bereits 1989 sonnenklar gewesen:
«Es ist erstaunlich und betrüblich, wenn man verfolgt, wie wenig die neue Dimension ‹Klimakatastrophe› bisher in die Diskussionen um Luftreinhalte- und Energiepolitik eingeflossen ist. Das muss nun mit höchstmöglicher Beschleunigung nachgeholt werden.» (NZZ, 2.10.1989)
Der Autor nennt vier Handlungsfelder: 1) Festlegung der Ziele der Klimapolitik – also das, was 1992 mit der Klimarahmenkonvention am UNO-Umweltgipfel in Rio de Janeiro erreicht wurde. 2) Erarbeitung der nötigen Massnahmenpakete und Einleitung der Schritte zu ihrer Realisierung – das Kyoto-Protokoll von 1997 führte als eine solche Massnahme immerhin den weltweiten Emissionsrechtehandel ein. 3) Verbesserung der Information, um die Akzeptanz der nötigen einschneidenden Massnahmen zu erhöhen bzw. deren politische Realisierung zu ermöglichen – heute eine Hauptforderung der internationalen und schweizerischen Klimastreikbewegung an die Politik. 4) Energiepolitische Massnahmen müssen prioritär zu einer Reduktion der Emission von Treibhausgasen beitragen – das im Mai 2017 von der Schweizer Stimmbevölkerung angenommene Massnahmenpaket «Energiestrategie 2050» machte einen ersten kleinen Schritt in diese Richtung.
Im Dezember vergangenen Jahres fand in Madrid die Weltklimakonferenz statt. 25’000 Teilnehmer*innen aus fast allen Staaten der Welt debattierten über Massnahmen zur Eindämmung der Erderwärmung bzw. zur Abwendung der Klimakatastrophe, darunter auch die Schweiz. Konkrete Ergebnisse wurden keine erzielt, das Klima erwärmt sich weltweit weiter. Wenn eine junge Generation, je länger je mehr auch unterstützt von ihren Eltern und Grosseltern, fordert, dass endlich wirksame regulatorische Massnahmen zur Eindämmung der Klimaerwärmung ergriffen werden müssten, kann dies nicht als «Hysterie» bezeichnet werden, denn die Einsicht in die Dringlichkeit zu handeln ist schon über 60 Jahre alt, auch wenn wir hier in der Schweiz von den existenziell bedrohlichen Folgen einer ungebremsten Klimaerhitzung bislang lediglich erste Anzeichen wie sommerliche Hitzewellen verbunden mit Trockenheit und (zu) warme Winter mit ausbleibendem Schnee verspüren.
Ulli Schelling