Rund achtzig Personen haben 2015 ihre Sachen gepackt und Thalheim verlassen. Sie sind weggezogen. Etwa zehn Prozent der Haushalte oder 350’000 Haushalte mit ca. 800’000 Personen dürften in der Schweiz pro Jahr aus ihrer Wohnung, ihrem Haus zügeln. Sie zügeln aus verschiedenen Gründen und in verschiedene Orte nah und fern. An die meisten Orte und in die meisten Länder unserer Welt würden die vielen Wegziehenden wohl niemals hin zügeln. Sie hätten dort zu viele Sorgen. Die Lieben von Daheim, das Vertraute würde ihnen fehlen. Sie könnten die Sprache nicht. Und was sollten sie dort den ganzen Tag tun? Und überhaupt: Was sollen sie an Orten, in denen ihr Leben nicht besser ist als zuhause, dort wo sie sich auskennen?
Starke helfen Schwachen
Zu uns gekommen sind vergangenes Jahr rund 50 Personen. Weil sie nun in Thalheim an der Thur wohnen, profitieren auch sie vom budgetierten kantonalen Zustupf von 1,45 Millionen Franken oder durchschnittlich 1600 Franken pro Kopf und Jahr. Das ist kein kantonales Sponsoring für das wir uns täglich beim Kanton Zürich bedanken. Durchschnittlich 1600 Franken pro Kopf, das ist der kantonale Finanzausgleich, den unsere Gemeinde erhält. Wir haben darauf Anspruch. Das ist Gesetz. Gäbe es den Finanzausgleich nicht, müssten wir pro Kopf im Schnitt 1600 Franken mehr Gemeindesteuern bezahlen. Das wäre doppelt so viel wie heute. Anders gesagt, sind wir Thalheimerinnen und Thalheimer selbst nicht stark genug, um die Kosten, die wir verursachen, zu tragen. Wir brauchen die Hilfe der Starken, des Kantons. Machen uns, die uns helfenden Starken aus Rüschlikon oder Küsnacht Vorwürfe?
Die rund 50 Neuzuzüger des Jahres 2015 wurden in der Dorfposcht namentlich begrüsst – egal woher sie kamen. Sie wurden begrüsst, unabhängig davon, ob sie viel oder keine Steuern bezahlen werden oder ob sie seit ihrem Zuzug die Gemeinde etwas kosten, weil sie per Gesetz das Recht auf finanzielle Unterstützung haben. Sie sind zugezogen. Das ist gut. Es war ihr Entscheid, in Thalheim oder Gütighausen zu wohnen. Nun integrieren sie sich mehr oder weniger. Sie sind frei zu entscheiden, ob ihnen dies wichtig ist oder nicht.
Gewöhnlich und ungewöhnlich
Bevor die einzelnen der rund 50 Neuzuzüger zu uns kamen, waren sie kein grosses Gesprächsthema. Hatten wir Erwartungen an sie? Vielleicht eher Hoffnungen. Dass sie nett sind zum Beispiel. Haben wir uns gefragt, weshalb sie ausgerechnet zu uns ins Thurtal ziehen? Eher nicht. Wir waren gegenüber den Neuzuzügern offen oder angenehm gleichgültig. «Gleichgültig» in diesem Sinn: Die rund 50 Neuzuzüger sind für uns «gleich gültig» wie wir selbst.
Die Liegenschaft, in der auch die Brückenwaage ist, gehört der Gemeinde. Dort mietet seit Jahren die Asylkoordination des Bezirks Andelfingen eine Wohnung über dem ehemaligen Gemeindebüro. Weil die bisherigen Bewohner innerhalb der Gemeinde umziehen, ist die Wohnung an der Thurtalstrasse frei.
Eine junge Familie mit vier Kindern zieht ein. In keinem anderen Bezirk des Kantons wohnen anteilsmässig so viele Familien mit drei oder mehr Kindern wie im Bezirk Andelfingen. Eine Familie mit vier Kindern ist also nichts Besonderes. Ungewöhnlich ist, dass die Familie aus Afghanistan stammt und die Schweiz um Asyl ersucht hat. Die höhere Anzahl Asylgesuche, die in den letzten Monaten in der Schweiz gestellt wurde, führt dazu, dass der Kanton Zürich, der dieses Jahr rund 1.45 Millionen in unsere Gemeindekasse bezahlt, die Gemeinden in die Verantwortung nimmt. So ist das vorgesehen. Er verlangt, dass die Gemeinden mehr Asylsuchende bei sich aufnehmen. Gemeinden, welche die Vorgabe nicht erfüllen, bezahlen Zehntausende Franken pro Jahr und diejenigen, die mehr als das Minimum aufnehmen, werden entsprechend honoriert. Die Gemeinden sind frei zu wählen, was ihnen lieber ist. Schulen, die asylsuchende Kinder unterrichten, werden vom Kanton zusätzlich finanziert.
Normalität im Wandel der Zeit
Die junge Familie aus Afghanistan hatte beim Auszug aus Ihrer Heimat mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht vor, nach Thalheim an der Thur zu ziehen. Dies ist nicht der einzige Unterschied zu anderen Zuziehenden. Wenig ist hier für sie vertraut, vieles ungewohnt. Das werden wir bei Kontakten feststellen. Was an unserem Alltag ist sonnenklar und was in unserem Verhalten ist nicht so universell einleuchtend, wie wir uns das vielleicht denken?
Wieso bezahlen wir für Abfall, trennen ihn weitgehend und stellen grüne Kisten für von Hand aufgelesenen Hundekot in die Landschaft? Für uns ist das klar, aber nur weil wir es gelernt haben. Wir fragen uns nicht, ob man Leitungswasser trinken kann und zu welcher Tageszeit es Strom aus der Steckdose gibt. Für uns ist klar, dass jede und jeder Schnecken vergiften und Mäuse jagen darf, aber nur die Jäger Wildschweine und keiner einen Biber. Es hat sich so ergeben, aber automatisch einleuchten muss es nicht.
Je nachdem, wie lange die junge afghanische Familie in unserer Gemeinde ist, wird sie auch unsere speziellen Eigenheiten lernen. Vordergründig geht es jedoch darum, unsere Sprache zu lernen, die Kinder in der Schule und die Eltern sonst. Arbeiten dürfen die Eltern vorderhand nicht. Dies ist ein Schutz unseres Arbeitsmarktes. Und dann wird es für sie wohl nicht nur einfach, sich an unsere Verhaltensmuster zu gewöhnen.
Was für uns normal ist, sind wir uns selten bewusst. Wir müssen es nicht bedenken, weil wir uns spontan der Norm entsprechend verhalten. Unser «normal» ändern wir über die Zeit. Frauenstimmrecht? Normal. Mobiler Medienkonsum? Weltweit normal. Spatzen schiessen? Nicht mehr normal, aber noch nicht lange. Verboten ist es erst seit 2012. Und 2015 war der Spatz Vogel des Jahres. Es hätte Mancherorts bis zu 40% weniger Spatzen als früher. Wir würden ihren Lebensraum kaputt machen, hiess es. Haben sie ein neues Zuhause gefunden? Vielleicht irgendwo auf dem Land?
Andreas Siegenthaler, Ortsverantwortlicher Asylkoordination
Die um Asyl ersuchende Familie stammt aus Kunduz. Die Taliban beherrschen nach dem weitgehenden Rückzug ausländischer Armeen das Umland. 2015 haben die Taliban die Stadt im Norden Afghanistans mehrfach angegriffen und Ende September für zwei Wochen besetzt. Todesschwadronen haben dabei nach Regierungsvertretern, Polizisten, Frauenrechtsaktivistinnen und Vertretern von Hilfsorganisationen gefahndet und sie und ihren weiblichen Familienmitglieder nach Vergewaltigungen ermordet. Die Rechte von Mädchen und Frauen sind unter den Taliban fast unvorstellbar eingeschränkt. Es brauchte tausende afghanische Soldaten und die Unterstützung von im Land verbliebenen US-Truppen, um die Taliban vorderhand aus dem Stadtzentrum in die Vororte und das Umland zurückzudrängen. Die Stadt ist und bleibt umkämpft. Diesen Frühling wird die nächste Taliban-Offensive erwartet. Dieses Mal mit den im Oktober eroberten Waffen der Regierungsarmee.
Ende Februar fand in der Brückenwaage eine Informationsveranstaltung für Nachbarn der Brückenwaage und Behördenvertreter statt. Es wurde über die Herkunft der jungen afghanischen Familie mit ihren drei Mädchen und einem Buben und die Methoden der Frauenunterdrückung unter den Taliban berichtet. Etwa ein Dutzend Nachbarn und Behördenvertreter haben an der Informationsveranstaltung teilgenommen.