Noch nie sind die Menschen soviel in der Weltgeschichte umhergereist wie heutzutage. Der Begriff «moderne Völkerwanderung» stimmt dafür jedoch nicht, höchstens im Zusammenhang mit den vielen unfreiwillig Wandernden, den Flüchtlingen, mag er zutreffend sein. Es werden Luxusreisen und Billigtouren angeboten, man reist drei Monate um die Welt oder schnell drei Tage nach New York.
Und wie heisst schon wieder der Weiher da drüben links vom grossen Wald? Was für Bäume wachsen dort oberhalb des Rebbergs? Und die Kirche im hübschen Dorf hier nordwärts, wie sieht die von innen aus? Die kleinen Gässchen in einem der Nachbardörfer, die jetzt abgebildet sind auf den Titelblättern der «Dorfposcht», bieten überraschende Ein- und Ausblicke.
Es darf auch ein wenig weiter weg sein. Nehmen wir beispielsweise die Freiberge – wie lange ist es her, dass wir dort gewandert sind? Vielleicht waren wir noch gar nie in dieser wunderbaren Landschaft, die erholsam ist für Körper und Seele. Und der Urnerboden? Das Fextal? Der Lauenensee?
Vor einiger Zeit ist mir ein tolles kleines Buch in die Hand gekommen von Nobelpreisträger John Steinbeck «Meine Reise mit Charley». Auf dem Gipfel seines Ruhms und bald sechzigjährig machte er sich auf und bereiste seine weitere Heimat, die Vereinigten Staaten. Er fuhr in einem grossen Wohnmobil durchs Land, als Begleiter war sein alter Hund Charley bei ihm. Steinbeck hatte gemerkt, dass er zwar jahrelang durch die Welt gereist war und über viele Orte, Länder und auch über Amerika geschrieben hat, dass er aber seine eigene Heimat nicht wirklich kannte. Eine herrliche Lektüre! Sie hat mich auch nachdenklich gemacht: Wieviel von der Schweiz kenne ich wirklich? Wieviel von meinem neuen Heimatkanton Zürich?
Reisen in der Nähe ist nicht nur sinnvoll, es ist auch viel weniger anstrengend und preisgünstiger als Fernreisen. Am erholsamsten ist jedoch eine wieder andere Art von Reisen: Gedankenreisen, Reisen im Kopf. Da können wir uns Länder erfinden, Landschaften ausdenken, sie mit Flüssen, Auen, Bergen und Hügeln versehen ganz nach unserem Gusto. Wir können Stromleitungen und Autobahnen weglassen, Eisenbahnlinien und Flugplätze, Industrieanlagen und Kernkraftwerke ausblenden, kurz: wir können uns im Kopf eine paradiesische Landschaft erfinden und darin umherspazieren. Wer noch einen Reiseführer braucht für solche Unternehmungen, dem sei der neue «Atlas der Erlebniswelten» (Verlag Eichborn) empfohlen, ein sehr spezieller Atlas mit ganz ungewöhnlichen Landkarten.
Augen zu und los kann’s gehen – und es kostet erst noch nichts – ausser ein wenig Zeit. Und wenn wir die Zeit für Reisen im Kopf nicht mehr haben, dann sind wir wirklich arm.
Ursy Trösch