Gedanken zur Namensgebung und zur Bedeutung der Thur für die Bewohner von Thalheim und Gütighausen
Wenn während einer langdauernden Trockenheit die Thur wie dieses Jahr zu einem kargen Wässerchen verkümmert, merken wir, wie bedeutsam sie für uns ist, wie sehr sie eben zu uns gehört. Wenn wir die Thur in solch einem jämmerlichen Zustand kaum mehr als unsere Thur erkennen, werden wir inne, was wir an diesem Fluss im Normalfall haben.
Thalheim an der Thur. Als es darum ging, anstelle des schimpflichen Dorlikon eine gute Benennung zu wählen, war es bald klar, dass die Thur in den neuen Namen gehöre. Vorgeschlagen wurden «Thurfelden», «Thurthal» und schliesslich «Thalheim an der Thur». Statt des alemannischen Siedlungsgründers aus der mittelalterlichen Ursprungszeit sollte fortan die zentrale geografische Tatsache den Hintergrund für den nüchternen Dorf- und Gemeindenamen bilden. Und dieser hat sich in den seither verflossenen 140 Jahren als angemessen eingebürgert.
Mit der bewussten Namengebung im Jahre 1878 brachten die Thalheimer sinnvoll zum Ausdruck, dass sie ihre Existenz in der von der Thur geschaffenen und geprägten Landschaft sahen, dass Thalheim wie Gütighausen ohne den Fluss undenkbar seien. Wenn die dortigen Menschen in ihrem bäuerlichen Alltag um sich schauten, sahen sie sich im weiten Horizontrahmen des Thurtals, eingefasst von dessen sanften Flanken. Tätig waren sie zum schönen Teil auf Feldern, Äckern und Wiesen, auf Grund und Boden, die Gletscher und Fluss der Thur geschaffen hatten, und von Jahr zu Jahr verdankten sie ihr Überleben deren Fruchtbarkeit. Dieser Thur galt jeweils auch die ganze Aufmerksamkeit, wenn sie bedrohlich anschwoll und die Dörfer in Angst und Schrecken versetzte; so waren katastrophale Ereignisse wie das Hochwasser von 1876, das weite Felder verheerend überschwemmt, ja, gar die Brücke in Gütighausen weggerissen hatte, für die Wahrnehmung des Flusses besonders eindrücklich.
Unsere Thur war in jener Epoche mehr denn je auch Thema in den politischen Instanzen auf allen Ebenen. Streitigkeiten zwischen den Kantonen TG und ZH wegen der Grenzziehung und dem gemeinsamen Gewässer beschäftigten 1873 sogar die Bundesinstanzen. Für eine erste Thurkorrektion hatte man sich auf einen Plan zur Begradigung des Flusslaufs geeinigt; aber dann brach der alte Zwist zwischen den Nachbargemeinden Dorlikon/Thalheim und Niederneunforn mit dem Schwarzpeterspiel von gegenseitigen Schupfwuhren, Ableitungen und Uferschäden erneut aus, worauf zuerst die Wogen zu glätten waren, bevor das grosse Werk (1874-93) schliesslich durchgeführt werden konnte.
In solchen Zeiten zeigte es sich, dass die Thur eben auch beträchtliches Konfliktspotential barg. Zwar sorgte sie mit ihrem ungezähmten Lauf für einen breiten unbebauten Streifen und entsprechenden Abstand – während es von Thalheim aus zu den Nachbarn in Gütighausen, Altikon, Eschlikon nur je etwa anderthalb Kilometer sind, liegt Niederneunforn ennet dem Fluss auf gut 3 Kilometer Distanz. Aber die Grenzlinie Thur war alles andere als stabil und konstant, weil der Fluss seinen Lauf häufig änderte, sein Bett veränderte, aufspaltete, neue Wege suchte und fand. Das verlockte natürlich die Anrainer auf beiden Seiten dazu, das Wirken des strömenden Wassers auszunutzen und so die veränderliche Grenze zu ihren Gunsten zu verschieben, um etwas vom begehrten, lebenswichtigen Rohstoff Boden zu gewinnen.
Das Wesen der Thur kommt schön zur Geltung in ihrem Namen. Er stammt aus einer alteuropäischen Sprachschicht. Das Wortfeld «Dura» meint nämlich «fliessend, rinnend, dynamisch, unruhig»; die Form «Thur» kam um 1300 auf. Genauso nehmen wir die Thur noch heute wahr: heute lieblich, sanft, ruhig, harmlos und morgen gewaltig tosend, wild brausend, zerstörerisch wütend, mit Wassermengen, zwischen 5 und 1000 Kubikmeter schwankend. Diese enorme Wechselhaftigkeit, das in ihr schlummernde gefährliche Potential, charakterisierte sie seit je und verhalf ihr zum bezeichnenden Namen.
Dass die Gütighauser ihre Thur fortan im Gemeindenamen genannt sahen, stimmte sie wohl wieder etwas versöhnlicher, nachdem der Wunsch zu einer eigenen politischen Gemeinde gescheitert war. Lebten sie doch in enger Tuchfühlung mit dem Fluss. Die Fähre bildete ein wesentliches Kennzeichen der Siedlung, der frühe Familienname «Fehr» (Fährmann) unterstreicht die Bedeutung des Flussübergangs, an dem 1862 eine Brücke gebaut wurde, was den Ort an den Transitverkehr anschloss. Demgegenüber hielten die Thalheimer eher auf Distanz zur mäandrierenden und manchmal gefährlichen Thur, holten dort allenfalls Kies und Sand für Strassen und das Schulhaus, gewannen einiges Kulturland, was dann seit der Flusskorrektion in grösserem Masse möglich wurde.
Die längste Zeit hatte man die Thur als eine elementare Gegebenheit der Natur betrachtet, üblicherweise benützt zum Wasserbezug, als Fischgrund, als Tränke und zum Waschen oder Baden – bei Hochwasser aber als entfesselte Gewalt gefürchtet, die Felder verwüsten und Land entreissen konnte. Erst in unsrer Epoche können wir dieses Wasser in seiner Lebendigkeit unbeschwert bewundern, uns an seinem Wellenspiel erfreuen, können viele Menschen den Fluss samt seiner Uferzone als Erholungswelt geniessen, den Reichtum und die Vielfalt seiner Erscheinungsweisen schätzen.
Reinhard Nägeli,
Historiker, ist Mitglied der Arbeitsgruppe «Damals in Thalheim und Gütighausen».