Vor dem Gemeindehaus stehen die Rosskastanien Ende April schon in voller Blüte. Unser Gespräch findet im hellen Sitzungszimmer des Gemeindehauses im Hochparterre statt.
Sandro Stelletti (*1976) und seine Frau Monika leben seit 2016 in Gütighausen. Sie wurden jung Eltern und haben zwei inzwischen erwachsene Kinder. Vorher haben sie in Effretikon gewohnt. Aufgewachsen ist Sandro Stelletti im Weiler Grafstal ob Kemptthal. An Thalheim/Gütighausen gefällt Stelletti der ländliche Charakter, die Nähe zur Natur und zur Thur. Was die Region Weinland insgesamt angeht, sticht für ihn positiv hervor, dass jedes Dorf seine charakteristischen Eigenheiten hat wie beispielsweise Marthalen seine markanten Riegelhäuser. Nachteilig an Thalheim an der Thur, in besonderem Masse für den Ortsteil Gütighausen, findet er die mangelhafte Anbindung an den Öffentlichen Verkehr und die langen Distanzen: bis Zürich dauert es 1 Std., bis Winterthur 0.5 Std. Insbesondere am Wochenende und für Jugendliche findet er das ÖV-Angebot suboptimal. Aus Sicht von Stelletti ist es als Familie ohne zwei Autos fast nicht zu machen. Die alljährlich vom Gemeinderat beim Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) eingereichten Vorschläge für eine bessere ÖV-Versorgung haben bis jetzt leider wenig bewirkt.
Von Beruf ist Sandro Stelletti seit fast dreissig Jahren Küchenbauer. Nach einer Erstausbildung als Möbelschreiner hat er später noch ein Fachhochschulstudium in Innenarchitektur absolviert. Eine Zeitlang hat er auch Gastronomieküchen projektiert und verkauft, heute sind es in erster Linie Privatküchen. Im Jahr 2019 hat sich Stelletti selbständig gemacht: Er berät, plant, misst, organisiert – nur das Montieren überlässt er Handwerksbetrieben seines Vertrauens. Sie wissen es schon: seit 2018 ist Sandro Stelletti überdies Gemeinderat von Thalheim/Gütighausen und seit 2022 Gemeindepräsident. Das Pensum für dieses politische Amt beziffert er auf 20 bis 30 %. In der verbleibenden Freizeit lässt er sich gerne auswärts kulinarisch verwöhnen, macht Ausflüge in der näheren oder weiteren Umgebung, unternimmt Reisen oder besucht fremde Städte, deren Sehenswürdigkeiten er am liebsten mit der World-City-Trail-App erkundet. Auf diese Weise kann er zugleich seinen Interessen für Architektur und Geschichte frönen.
In einem Verein ist Stelletti momentan nicht tätig. In seiner Jugend war er jedoch fünfzehn Jahre lang aktiv beim FC Kemptthal. Damit Sandro Stelletti glücklich ist, braucht es eigentlich nicht viel: Das Wichtigste ist ihm, dass er sich gesund fühlt. Wenn es seiner Familie gut geht, geht es ihm ebenfalls gut und macht ihn froh. Als «Sonnenmensch» geniesst er warme Tage wie diesen! Natürlich bringe er mit seinen 49 Jahren auch so seinen Rucksack mit, aber er versuche stets, das Positive zu sehen. Um das zu können, setzt er sich möglichst wenig den negativen Nachrichten in Zeitung und Fernsehen aus, die er kaum liest und schaut.
Kehren wir also wieder ins vergleichsweis beschauliche Thalheim zurück: Im hiesigen Volg kaufen Stellettis ein, wenn es schnell gehen muss. Der Andelfinger Volg wartet allerdings mit einem breiteren Sortiment auf, v.a. beim Fleisch. Für Grosseinkäufe fahren sie mit dem Auto am liebsten die bequeme und landschaftlich schöne Strecke nach Frauenfeld. Praktisch findet Stelletti, wenn man, wie in einem Supermarkt, alle Besorgungen an einem Ort erledigen kann. Als ehemaliger Effretiker sei er da vielleicht ein bisschen verwöhnt, meint er, in den Städten seien die Wege halt kurz, oft in Gehdistanz. – Könnte er sich denn vorstellen, wieder in einer Stadt zu leben? Im Alter vielleicht, ja. Ausschlaggebend wäre vor allem die grössere Mobilität dank des dichteren ÖV-Netzes.
Wir bleiben beim Stadt-Land-Thema: Obwohl in dem Quartier, in welchem er in Effretikon gewohnt hatte, die gegenseitige Unterstützung in der Nachbarschaft ausgesprochen gross war, würde Stelletti den Menschen auf dem Land die grössere Hilfsbereitschaft attestieren – vielleicht, weil man hier ein bisschen mehr auf sich gestellt ist? Umgekehrt hat er selber die Erfahrung gemacht, dass es in einem Dorf länger dauert, bis man als Zugezogener wirklich als Zugehöriger akzeptiert wird. Die kollektive Identität speise sich in kleinen Dorfgemeinden auch stärker aus den «alten Zeiten», an denen man gerne festhalten möchte, beobachtet Stelletti. In einem Dorf in den Schweizer Bergen zu leben, käme für ihn nicht in Frage: Von den Bergen hat er schnell wieder genug, die Winter dauerten ihm dort zu lange und es wäre ihm dann doch allzu abgelegen. Zudem wäre man in einer kleinen Berggemeinde für mehr Bereiche tendenziell selber zuständig, Infrastrukturen wie Wasser- und Stromversorgung, Strassen, Wege, ÖV, Schulen, Läden, Ärzte, Apotheken etc. sind dort noch weniger selbstverständlich als hier im ländlichen Mittelland.
Die bevorzugten Feriendestinationen der Stellettis sind Italien und Polen. Sandro Stellettis Familie kommt ursprünglich aus Molise, der zweitkleinsten Region Italiens, Monika Stellettis Wurzeln liegen in Polen. An Polen schätzt Stelletti die Geschichtsträchtigkeit und die Vielseitigkeit des Landes: Es ist mit viel Wald sehr grün, hat Berge zum Skifahren, Seen und das Meer zum Baden. Warschau ist gar Sandro Stellettis Lieblingsstadt in Europa! An Italien schätzt er die reichhaltige Kultur und Geschichte, das bekömmliche Essen und den guten Wein. Apropos: Im Alltag trinkt Stelletti vorzugsweise Hahnenwasser, wenn es denn einmal Wein sein soll, wählt er einen Primitivo. Pasta mag er in allen Varianten, Cordon bleu und Raclette zählen ebenfalls zu seinen Lieblingsspeisen.
In seinen Phantasien und Träumen könnte sich Stelletti auch ein Leben in Neuseeland oder auf Hawaii ausmalen. Er fügt in diesem Zusammenhang jedoch an, dass er und seine Frau eigentlich nicht sehr sesshafte Menschen seien und sich sehr gut eine Lebensform des Umherziehens und Unterwegsseins vorstellen könnten. Daran würde ihn das Kennenlernen vieler neuer Kulturen reizen. Am Ende würde er aber doch wieder in die Schweiz heimkehren wollen.
Auf die obligate Frage, wie lange Thalheim noch als eigenständige Gemeinde überleben kann, gibt der Gemeindepräsident eine durch und durch pragmatische Antwort: «Solange es finanzierbar ist.» Die Ansprüche und Erwartungen der Bevölkerung einerseits und die übergeordneten kantonalen gesetzlichen Anforderungen und Vorschriften andererseits hätten ihren Preis – sei es monetär für outgesourcte Dienstleistungen oder sei es via Löhne für qualifiziertes Personal. In einer grösseren Gemeinde würden sich diese Grundkosten auf mehr Köpfe verteilen. Eine kleine Verwaltung habe es zudem schwer, konkurrenzfähige attraktive Arbeitsplätze anzubieten, sowohl was das Salär als auch was die Kompetenzen und das Jobprofil anbelangt.
Und was bereitet unserem Gemeindepräsidenten als Privatmensch Sorgen, wenn er an die Zukunft denkt? Es sind gesellschaftliche Fragen: der allgegenwärtige Konsum, die fortschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche und die damit zusammenhängende Vereinsamung der Menschen. Immer am Bildschirm verpasse man doch das reale Leben, ist Stelletti überzeugt! Die digitalen Applikationen für fast alle Bedürfnisse verdrängten zunehmend die zwischenmenschlichen Begegnungen. Wir lebten zusehends in abgeschotteten Welten und verlernten allmählich, miteinander ein alltägliches Gespräch zu führen. Dass es uns insgesamt so gut gehe (zu gut!), führe in negativer Konsequenz dazu, dass jede und jeder nur für sich schaue. Der soziale Zusammenhalt leide.
Auf seiner Geschäftswebsite «Stelletti Chuchibau» charakterisiert sich Sandro Stelletti selber als «fröhlich» und «lebensfroh». Ich teile seine Selbsteinschätzung und danke ihm für die Zeit, die er sich für unser Gespräch genommen hat!
Ulli Schelling