Noch bevor Rosmarie Bärtschi den Kaffee fertig bereitgestellt hat, ist ihr Mann Paul schon mitten am Erzählen. Man muss zu Bärtschis nicht mit vorbereiteten Fragen kommen, ein Stichwort genügt und schon entfaltet sich ein dichtes Geflecht von Geschichten, Beziehungen und Namen und breitet sich eine lebendige Topografie der Thalheimer Parzellen und Liegenschaften und ihrer ehemaligen und gegenwärtigen Besitzer und Bewohnerinnen vor dem inneren Auge aus. Als nicht Alteingesessene kann ich nicht jedem Strang folgen und den Erzählfluss nur schwer im Zaum halten – über manche Fragen, die ich eigentlich stellen wollte, galoppieren wir an diesem Nachmittag im Eifer des Gefechts fröhlich hinweg. Paul Bärtschi jedenfalls kennt unser Dorf wie seinen Hosensack! Wir sitzen in der Küche, von wo aus Rosmarie mit einem Kachelofen das Haus heizt und das Warmwasser aufbereitet.
Paul (*1944) ist gebürtiger Thalheimer, Rosmarie (*1946) kommt ursprünglich von Truttikon ennet der Thur, was man auch ihrem Dialekt anhört. 1971 haben die beiden in Thalheim geheiratet. Bei den Festivitäten zur Hochzeit entzündete sich bei der Kirche ungeplant zu viel Schwarzpulver aufs Mal, und wegen der dadurch entstandenen Feuerteufel mussten in der Folge sogar einige Gäste hospitalisiert werden. Paul brachte ihnen zur Linderung am Sonntag das übrig gebliebene Bier ans Spitalbett. Zuerst wohnte das junge Ehepaar zehn Jahre lang im damals neu ausgebauten Dachstock des heutigen Volg und dann weitere zehn Jahre einen Stock tiefer, also gleich vis-à-vis vom Kuhstall, wo Paul seine Karriere als nebenberuflicher Bauer ebenfalls 1971 mit einem einzigen Rind begonnen hatte. 1991 konnten die beiden ins elterliche Bauernhaus neben dem Stall umziehen. Heute halten die Bärtschis zehn Rinder und bewirtschaften noch Gras- und Ackerland.
In Thalheim leidet Rosmarie etwas darunter, dass es so oft neblig ist – das wäre in Truttikon anders! Die dortigen Sonnenstunden vermisst sie jedes Mal, wenn sie von einem Besuch bei ihrer Tochter, die in Truttikon lebt, heimkommt. Paul meint zu beobachten, dass die Wetterlagen seit ca. fünfzehn Jahren mehr Nebel hervorbringen als früher. Und wie für die grosse neue Überbauung der ganze Hang über dem Dorf ausgelocht wurde, erschreckte und bedauert Rosmarie schon ein bisschen. Aber es ist halt der Lauf der Zeit. Früher war viel vom heute überbauten Land Pachtland der Bärtschis oder gehörte der Gemeinde und wurde von Paul gemäht.
Gibt es denn einen Ort auf der Welt, wo die beiden lieber leben möchten als hier? Auch wenn Paul mit dem Reitverein schon ein paarmal (und zu günstigen Konditionen) tolle Wintertage in einem Hotel in St. Moritz erlebt hat, zieht es ihn nicht von Thalheim an der Thur weg. Und schon gar nicht in eine Stadt! Als Rosmarie ums Jahr 1970 im Altersheim Adlergarten in Winterthur arbeitete und da eine Mietwohnung im Äusseren Lind offeriert bekam, hatte Paul nur abgewunken. In der Stadt und an einer Strasse zu wohnen, das kam überhaupt nicht in Frage für ihn: «Nie im Leben bringst Du mich da hinein», hatte er zu seiner zukünftigen Frau gesagt. Auch ihr hatte es in Winterthur gar nicht gefallen.
Für die zwei- bis dreijährige Aufzucht gaben Bärtschis ihre Kälber früher in die Berge, genauer: nach Stierva ob Tiefencastel. Pro Tier und Jahr kostete das fast 1’000 Franken. Mit der Bergbauernfamilie dort oben konnten sie über die Jahre eine vertrauensvolle und freundschaftliche Beziehung aufbauen. Für jeweils einen Tag und eine Nacht reisten sie im Sommer ins Albulatal, um ihr Vieh zu besuchen. Das war oft mit kleineren Abenteuern verbunden. Paul erinnert sich zum Beispiel lebhaft an einen frühabendlichen Fussmarsch auf die Alp, gemeinsam mit dem dannzumaligen Alppräsidenten. Wegen eines hereinbrechenden Gewitters mussten sie auf der Rinderalp einen langen Zwischenhalt einlegen und etliche Kaffees mit Schnaps trinken. Später, zurück auf der Kuhalp, holte die dortige Sennin auch noch eine Flasche Wein hervor … Der Abend war lustig und bleibt unvergesslich, auch weil er ein Jahr später zur Heirat von Pauls Begleitung mit besagter Sennin geführt hatte. Im Hotel in Tiefencastel hatte der Wirt immer ein Zimmer für sie parat, auch wenn sie unangemeldet und zu vorgerückter Stunde eintrafen. Einmal mussten sie jedoch auf die Lenzerheide ausweichen. Als ihnen der Zimmerpreis à 300 Franken. genannt wurde, zogen sie es allerdings vor, im Heustock des Bergbauern zu übernachten. Ferien im engeren Sinn, also abgesehen von Reitverein oder Alpbesuch, machten und machen die Bärtschis eigentlich nie.
Paul Bärtschi konnte, obwohl er gewollt hätte, nicht auf direktem Weg Bauer werden. Das Land seines Vaters, der Arbeiter in Winterthur war, war verpachtet. Also stellte sich Paul nach der Schule bei der Sulzer in Winterthur vor. Da er bei dieser Gelegenheit ohne Mühe den Satz des Pythagoras aufsagen konnte, stand einer Lehre als Maschinenschlosser (1959 bis 1963) nichts im Weg. Bei Roland Roggensinger leistete er während seiner Lehre zweimal Landdienst. Nach der Sulzer arbeitete Paul bei der Rieter in Töss. Rosmarie arbeitete nach einer Haushaltungslehre bei einer Pfarrfamilie in Zürich zuerst in Kinderheimen in Wädenswil und Winterthur, bevor sie 1968/69 die Landwirtschaftliche Schule in Winterthur-Wülflingen besuchte. Erst im Jahr 1996, als Rieter achtzig Mitarbeitende, darunter auch Paul Bärtschi, entliess, sattelte Paul vollamtlich auf den Beruf des Bauern um. Die ausbezahlte Pension investierte er und kaufte Land.
Für Paul Bärtschi als Dragoner bei der Kavallerie der Schweizer Armee spielte der oben erwähnte Reitverein eine grosse Rolle im Leben. Er kann unzählige Geschichten erzählen rund um die Pferde, welche er aus diesem Grund besessen hatte. Er zeigt mir u.a. auch ein Foto, auf dem er als Springreiter an einem Concours auf dem Wolfensberger Güetli in Winterthur zu sehen ist. Concours fanden in Winterthur, Andelfingen und Stammheim statt, zwölf Übungen pro Jahr gehörten zum obligatorischen Training eines Dragoners. Bis nach Humlikon und Trüllikon ritten sie jeweils im Winter, und das in der Nacht! Das Reiten mit Dienstkameraden scheint eine grosse Leidenschaft von Paul gewesen zu sein – er sei mit seinem Ross verheiratet gewesen, sagt Rosmarie dazu. Sie selber war zwar eine Zeitlang im Turnverein, hielt aber bei all diesen Eskapaden von Paul vor allem zu Hause mit den drei Kindern die Stellung. Da war und ist immer noch genug zu tun. Feuern zum Beispiel oder Brot backen und kochen. Eben ist Paul günstig zu einem Reh aus einem Verkehrsunfall gekommen. Nachdem er es gehäutet und zerlegt haben wird, ist es Rosmaries Aufgabe, einen Rehpfeffer daraus zu machen – zusammen mit Spätzli und Blaukabis oder Rosenkohl eines von Bärtschis Lieblingsessen.
Ich schaue nach all den Berichten und Episoden doch wieder einmal auf mein Papier mit den vorbereiteten Fragen und entscheide mich zum Abschluss für die letzten beiden: Was bereitet euch Sorgen, wenn ihr an die Zukunft denkt? Dass es im Gegensatz zu früher unternehmerisch als Bauer viel schwieriger geworden sei, sinnvoll in seinen Bauernbetrieb zu investieren, meint Paul. Und Rosmarie? Sie zögert. Ihre Generation hätte nach dem Krieg nichts gehabt und alles aufbauen müssen. Jetzt hingegen sei eher ein Rückbau gefragt. Dann fügt sie noch eine Beobachtung aus allernächster Nähe hinzu: Wenn sie sehe, wie schon Kinder ihr Schoggistängeli im Volg mit der Kreditkarte oder mit dem Handy bezahlen, habe sie Zweifel, ob diese Jungen je einen Sinn fürs Geld und einen reellen Bezug zu dessen Wert entwickelten. Und was ist Bärtschis Prognose in Bezug auf die Frage, wie lange Thalheim an der Thur in Zukunft eine eigenständige politische Gemeinde bleiben kann? Paul antwortet lapidar: «So lange, wie der Thalheimer Kirchturm steht.» Und der ist ja nun gerade frisch renoviert.
Ich danke Rosmarie und Paul Bärtschi, dass sie mir so grosszügig Fotos gezeigt und Anekdoten aus ihrem Leben erzählt haben, und freue mich auf die nächste Begegnung!
Ulli Schelling