Dorlikon / Altikon / Dinhard, 1872 bis 1889
aus K. Basler, R. Nägeli: Thalheim, Geschichte einer Gemeinde im Zürcher Weinland, 1978, S. 117 – 135
1. Einleitung
Die Eisenbahn galt ab 1850 als Inbegriff der neuen Zeit. Das Dampfross brachte Fortschritt und Entwicklungsmöglichkeiten. Es trug den Puls der neu erwachten Wirtschaft in die Provinz und rückte sie näher an die Zentren wirtschaftlicher und politischer Entscheidungen. Seit 1855 erreichten Personen- und Güterzüge von Zürich aus Winterthur, St. Gallen und Frauenfeld. 1857 dampften die ersten Züge der Rheinfallbahn durchs Weinland.
2. Politische Rahmenbedingungen
Die demokratische Bewegung mit Zentrum Winterthur hatte nach harten Auseinandersetzungen mit dem liberalen Regime (Exponent Eisenbahnkönig Alfred Escher) dessen Rücktritt erreicht und 1869 eine neue Kantonsverfassung gebracht. Diese sicherte ein erweitertes Mitbestimmungsrecht des Volkes in politischen Fragen: Direkte Demokratie anstelle der repräsentativen!
Das hochgesteckte Ziel der Winterthurer sah eine Konkurrenzlinie zu den bestehenden Eisenbahngesellschaften der Nordostbahn und Zentralbahn vor. Deshalb wurde der Plan eines Anschlusses an die Nordostbahnlinie Schaffhausen-Winterthur aufgegeben zugunsten der weit populäreren Idee einer Nationalbahn von Singen über Winterthur nach Baden, Aarau und weiter in die Westschweiz.
3. Die «Nation» bringt das Geld auf
Ab 1872 wurde die neue Linienführung von Ossingen nach Dorlikon-Welsikon-Seuzach-Winterthur propagiert. Die Finanzierung sollte nicht mehr durch Private, sondern durch die öffentliche Hand (betroffene Gemeinden und Kantone) erfolgen. Am 22. Juni 1872 kamen Vertreter der Eisenbahngesellschaft zur Dorlikoner Zivilgemeinde mit der Erwartung, dass die Gemeinde als Nutzniesserin sich finanziell beteilige. Nach provisorischem Verteilschlüssel sollten sie 40’000 Franken beisteuern. Die Gemeindeversammlung stimmte zu, diesen Betrag aufzubringen. Bedenken gegen die ungeheure Verschuldung wurden nicht laut. Bald mussten die Quoten erhöht werden und Dorlikon machte abermals mit. Zusätzliche 15’000 Franken wurden an 30 Aktionäre in der Gemeinde verteilt, wobei die Gemeinde die Garantie übernahm. Bei Baubeginn 1873 hatte demnach die ZG Dorlikon die gewaltige Summe von 55’000 Franken entweder durch Kreditaufnahme bei der ZKB schon bezahlt oder zumindest fest zugesichert.
Somit waren die Dorliker in der Hoffnung auf eine Station in Dorfnähe begeisterte Befürworter der Bahn.
Weniger enthusiastisch waren die Gütighauser. Sie beschlossen, sich nur mit 15’000 Franken zu beteiligen, wenn eine Station in ihrer Nähe errichtet werde. 1872 leisteten sie deshalb erst 1’500 Franken (10 Prozent). Als dann 1874 feststand, dass es keine Station Gütighausen geben wird, verlangten sie erfolgreich die Anzahlung zurück.
4. Rasanter Bau
Ab Sommer 1873 wurde mit Scharen von Arbeitern, meist Ausländern gebaut. Aber auch Dorliker Fuhrleute und Handlanger fanden hier ein willkommenes Arbeitsfeld. Am emsigsten muss es beim Erdeinschnitt, der durch die Reben in der Schleipfi gezogen wurde, zu und her gegangen sein.
Die Grabungen, Schüttungen und Trasseeplanierungen sowie der Gleisbau mit Föhrenschwellen und Eisenschienen wurden weitgehend von Hand ausgeführt. Der Bau brachte viel Betrieb ins Dorf und verursachte erstaunlich wenige Schwierigkeiten. Die anfänglichen Befürchtungen zu Problemen mit den fremden Arbeitern erwiesen sich im Verlaufe der Zeit als unbegründet, was so auch im gemeinderätlichen Protokoll im Jahresrückblick 1874 zum Ausdruck gebracht worden ist. Ein schönes Dokument zur positiven Haltung der Dorliker gegenüber den Ausländern!
5. Kampf um den Bahnhof
Die Dörfer kämpften nun verbissen dafür, dass «ihre» Bahn wirklich «vor der Haustüre» anhielt. Die Direktion hingegen wollte zwischen Ossingen und Seuzach nur eine Station, nämlich östlich von Eschlikon erstellen. Sie sollte Dorlikon, Altikon, Dinhard, Welsikon und Eschlikon bedienen. Auf vehemente Intervention der Dinharder wurde ihnen die Station Welsikon zugestanden. In Dorlikon war man nun der Meinung, in diesem Fall sollte die Station für Dorlikon und Altikon nach Norden in die Nähe des Dorfes verschoben werden. Die Altiker wehrten sich verbissen gegen die Verschiebung Richtung Dorlikon, u. a. auch weil sie an die Finanzierung 90’000 Franken (Dorlikon 55’000, Dinhard 60’000) zugesichert hatten. Die Bahndirektion entschied dieses Tauziehen Ende 1873 und beschloss, die Station nordöstlich von Welsikon zu errichten.
Gegen diesen Entscheid protestierten die Dorliker und wandten sich sowohl an den Regierungsrat wie den Bundesrat. Im Frühjahr 1874 entschied der Bundesrat, die Station solle im Leimocken, also am heutigen Standort gebaut werden. Die Dorliker gaben noch nicht auf und schickten Bezirksratsschreiber Huber zu Bundesrat Scherrer (einem Winterthurer) mit dem Vorschlag, die Station 200 m näher an Dorlikon zu erstellen. Der Bundesrat antwortete clever, das sei möglich, wenn Altikon damit einverstanden sei. Aber es war klar, dass die Altiker dazu niemals ja sagen würden. So konnte dann im Juni 1874 das Gebäude endlich gebaut werden.
Doch Ruhe um das einsame Gebäude im weiten Feld kehrte nicht ein. Als die Dorliker erfuhren, dass die Station Altikon heissen solle, fühlten sie sich wieder geprellt. Und der Beschluss des Verwaltungsrats der Bahn, die Station Altikon-Dorlikon zu nennen, war zuviel. In einem heftigen Schreiben warfen sie der Bahndirektion vor, ihr Dorf zurückzusetzen und schliesslich ganz fallen lassen zu wollen. Wiederum wandten sie sich auch an den Bundesrat. Und, oh Wunder, der Wille des Bundesrates war, dass die Station Dorlikon-Altikon heissen soll.
Jubel um den ersten Zug
Enttäuschung, Ärger und Ungemach waren verflogen, als am 15. Juli 1875 der erste Zug fuhr. An diesem Donnerstagmorgen strömten Vereine, Schuljugend und andere Dorfbewohner von Dorlikon und Altikon zur Station. Der grossartige Festzug (2 Dampflokomotiven und 22 Wagen) rollte um 8.10 Uhr pünktlich an. Den beiden Zivilgemeindepräsidenten wurden zusammen nur fünf Minuten Redezeit zugestanden, dann dampfte der Festzug um die Kurve ins Thurtal.
Düstere Wolken am Eisenbahnhimmel
Nachdem der erste Gwunder gestillt war und die meisten Dorliker das Abenteuer einer Bahnreise ohne Schaden überstanden hatten, liess der Personenverkehr nach.
Noch weit stärker fiel ins Gewicht, dass die erwarteten überregionalen Transporte von Süddeutschland nicht über die Schienen der Nationalbahn rollten. Der einträgliche Güterverkehr bevorzugte nach wie vor die bewährten Linien der Rivalen Nordostbahn und Centralbahn. Diese bedrängten wo immer möglich die neue Konkurrenz, die ja zum Teil auf ihre Bahnhöfe (z. B. Winterthur) angewiesen war.
Das Betriebsdefizit der Nationalbahn wuchs jährlich. Dies auch, weil die Gesellschaft zu viel Personal auf den zu zahlreichen Stationen beschäftigen musste. Ausserdem rächte es sich, dass man die Strecke möglichst billig gebaut hatte und deshalb nun hohe Unterhaltskosten anfielen. Auch die Idee, Zürich zu umfahren und so die Nordostbahn ausstechen zu können, erwies sich als katastrophaler Fehler.
Die halsbrecherische Finanzpolitik der Gemeinden führte zur Katastrophe und Ernüchterung
Die Dorliker Gemeindefinanzen boten vor der Eisenbahn folgendes Bild (1872): Jahreseinnahmen 1’950 Franken, Ausgaben 1’938 Franken, Überschuss somit noch 12 Franken. Das Vermögen betrug 24’660 Franken.
An der Eisenbahn beteiligten sich die Dorliker anfangs mit 55’000 Franken in Form von Aktien. Die Bahn kam aber viel teurer als geplant. Jetzt, wo man endlich die längst ersehnte Verbindung mit der Welt hatte, liessen sich die Dorliker deshalb bewegen, der Bahn, für die sie sich bereits massiv verschuldet hatten, weiter zu helfen. Man begründete es auch damit, man könne doch das schon investierte Kapital nicht fahren lassen. Die Zürcher Kantonalbank war jedoch nicht bereit, dem hoch verschuldeten Dorlikon noch Kredit zu geben. Hingegen war Winterthur bereit, der Gemeinde Geld vorzuschiessen. So war Dorlikon anfangs 1876 bereit, nochmals für rund 50’000 Franken Obligationen 2. Ranges zu übernehmen. Die Schuldenlast der Dorliker wurde damit grösser als das Vierfache des Gemeindevermögens.
Natürlich hatte man gehofft, nun Dividenden und Zinsen ernten zu können. Dies war jedoch nur einmal der Fall. 1875 konnten Dividenden von 1’100 Franken verbucht werden.
Ab Neujahr 1878 musste die Nationalbahn alle Zahlungen einstellen und im Februar wurde vom Bundesgericht die Zwangsliquidation verfügt. Im Liquidationsverfahren kamen die Gemeinden in die hinteren Ränge. Aktien und Obligationen mussten deshalb vollständig abgeschrieben werden, d. h. die Gemeinde verlor über 100’000 Franken.
Schon seit 1875 hatten vermehrte Holzschläge im Gemeindewald etliches Geld eingebracht, mit dem die Schuld bei der ZKB verringert wurde. Die Winterthurer hätten 1876 ihr Darlehen gerne gekündigt. Da Dorlikon jedoch ausserstande war, diese Summe aufzubringen, wurde es vorerst verlängert. Als 1878 Winterthur finanziell gänzlich ruiniert war, drängte es nun darauf, das Geld zurückzuerhalten. Dorlikon, wen wunderts, bekam jedoch von niemandem Geld. Es blieben nur eine rigorose Sparpolitik und übermässige Holzschläge im Gemeindewald. Dadurch konnte 1879 der Holzertrag auf stolze 14’470 Franken gesteigert werden, das Zehnfache von 1872! Im folgenden Jahr ging die Zivilgemeinde noch weiter und forderte von den Bürgern erstmals eine «Eisenbahnsteuer» ein.
1880 betrieb die Stadt Winterthur aus eigener Not heraus die Zivilgemeinde Thalheim. Der Stadtrat reiste nach Thalheim, um zu sehen, was zu holen wäre. Die gefitzten Dorliker führten die Räte ins Aeuli hinunter und zeigten ihnen viel Wald mit Weiden und Erlen, durchsetzt von einzelnen Eschen: Das sei ihr Gemeindewald.
Die Thalheimer Behörden wandten sich schliesslich verzweifelt an den Regierungsrat, damit er vermittle. Mit dessen Hilfe einigte man sich 1881 darauf, dass Winterthur die auf 53’000 Franken angewachsene Schuld auf 25’000 Franken zu 4 Prozent reduzierte. Zwar stöhnte das Dorf unter der enormen Last, aber schon 1889 war das Defizit in der Rechnung dank gewaltiger Anstrengungen getilgt.
Erich Oberholzer