1990 war eine Zeit, da Pendlerinnen und Pendler sich noch kannten, miteinander im Zug diskutierten und die Leute, die morgens noch schliefen, in Ruhe liessen. Gute Voraussetzungen, um ein unangekündigtes Bahnproblem effizient anzugehen:
Mit dem Fahrplanwechsel 1990 (Inbetriebnahme der Zürcher S-Bahn) wurde der Takt um eine halbe Stunde verschoben. Dadurch gingen die guten Anschlüsse der S29 an die stündlich verkehrenden IC-, Schnell-, und Regionalzüge in Winterthur und Stein am Rhein verloren. Zudem lagen die Ankunftszeiten in Winterthur für die werktätige Bevölkerung und insbesondere für SchülerInnen ungünstig. Die deutliche Angebotsverschlechterung der Etzwilerlinie war ein erster Weckruf; BahnbenützerInnen wurden hellhörig.
Im April 1992 wurde die neu von den SBB erstellte Linienerfolgsrechnung publiziert. Darin wurde die Etzwilerlinie als «unrentabelste Bahnlinie der Schweiz» abgestempelt. Die angedrohte Linienschliessung mit Umstellung auf Busbetrieb und die (unglaubwürdigen) Zahlen der Linienerfolgsrechnung brachten das Fass zum Überlaufen. Die Interessengemeinschaft «IG Etzwiler-Linie, zur Erhaltung der Zugsverbindung Winterthur-Stein am Rhein» wurde gegründet. Die Linienerfolgsrechnung stellte sich als fehlerhaft heraus, im Juni 1992 wurde eine Petition mit 3’740 Unterschriften zur Erhaltung der Bahnlinie an den Bundesrat gesandt, die Presse wurde eingeschaltet und die Zusammenarbeit mit den Behörden der Anliegergemeinden intensiviert.
Fast gleichzeitig wurde eine zweite Interessengemeinschaft «IG Winterthur-Stein am Rhein im richtigen Takt» gegründet. Diese reichte im Oktober 1992 1’600 Unterschriften an den Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) ein mit dem Ziel eines direkten IC-Anschlusses in Winterthur nach Zürich.
Da beide IGs das gleiche Ziel verfolgten, wurden diese im Januar 1993 unter dem Namen «IG Etzwiler-Linie» vereint. Ein Glücksfall war die kurzfristige Möglichkeit, die Anliegen in der Diplomarbeit von Felix Dudler «Zweckmässigkeitsüberprüfung des öffentlichen Regionalverkehrs am Beispiel der Region Zürcher Weinland-Untersee-Rhein» zu analysieren. Der Bericht erschien im Oktober 1993. Vorschläge daraus wurden beim Bund, der SBB und dem ZVV positiv aufgenommen. Eine zweite Studie, durchgeführt an der Hochschule St.Gallen, brachte Ende Februar 1994 weitere Erkenntnisse zur Verbesserung der Attraktivität der S29. Dies alles führte zum Umdenken und die Linienschliessung konnte abgewendet werden.
Die Ruhe war von kurzer Dauer, sorgte doch der ZVV im Januar 1998 mit dem «Randstundenkonzept 1999» im ganzen ZVV-Gebiet für grossen Unmut. Um Kosten zu sparen, war bei einigen Linien tagsüber nur ein Stundentakt garantiert, abends und in den frühen Morgenstunden die Umstellung auf Busbetrieb geplant. Die Etzwilerlinie war auch betroffen. Erneut stellte sich die IG mit Behörden der Anliegergemeinden dem ZVV-Konzept mit guten Argumenten entgegen und konnte so die Einführung eines Busbetriebes an den Randstunden verhindern.
Die ursprünglichen Ziele der «IG Etzwiler-Linie» – Linienerhalt, keine Umstellung auf Busbetrieb, leichtes flexibles Rollmaterial und Ausbau des Angebotes – sind erfüllt. Bahnhöfe wurden erneuert und automatisiert, ein fast vollständiger Halbstundentakt eingeführt, Trasses unterhalten und 2021 die Thurbrücke bei Ossingen nach einer Sperrung revidiert und verstärkt. Die S29 fährt wieder und die «IG Etzwiler-Linie», heute bekannt als «IG S29», hat weiterhin ein waches Auge auf unsere Bahnverbindung und den ÖV in unserer Region.
Werner Straub