Es gibt eine ganze Menge Wörter, die positiv oder negativ gemeint sein können. Das Wort «naiv» gehört dazu. Sagt man von einem erwachsenen Menschen, er sei naiv, tönt das nicht sehr liebenswürdig. Man belächelt und hält ihn (oder auch sie) für etwas dümmlich. Spricht man bei einem einfachen Bild in kräftigen Farben und Linien jedoch von naiver Kunst, ist das ein Lob. Und sagt man von einem sensiblen Menschen, er habe seine unverfälschte Naivität behalten, meint man das auch eher positiv.
Angefangen hat mein Gedankenflug rund um dieses Wort «naiv» im Volg-Laden in Gütighausen. Ein herziger kleiner Bub war beim Einkauf mit seiner Mutter. Margrit Huser fragte ihn an der Kasse: «Wotsch na es Tierli?» und hielt ihm die grosse Dose mit den vielen verschiedenfarbigen Holztierchen hin. Anders als andere Kinder, die lange darin herum wühlen, etwas herausnehmen, es zurücklegen und wieder etwas anderes suchen, hat dieser Kleine einfach eines gepackt. Er schaute es an und sagte sofort: «Schau, das ist ein Regenbogen.» Es war ein feuerrotes Holzstückchen in der Form eines halben Kreises. Ich wäre nie im Leben darauf gekommen, dass das ein Regenbogen sein könnte – und ich bewunderte wieder einmal die bildhafte und lebhafte Phantasie der Kinder. Sie haben auch absolut keine Hemmungen, ihre Erkenntnisse laut auszusprechen. Er sah in dem Holzstückchen einen Regenbogen – und damit war es auch ein Regenbogen, selbst wenn er nur die eine Farbe Rot aufwies. Seit diesem Moment kreisten meine Gedanken immer wieder um diesen kurzen Augenblick – und um den Begriff «naiv». Zögerliches Abwägen und verschämte Zurückhaltung kommt erst später, wenn ein Kind manchmal schmerzlich lernen muss, dass es für etwas ausgelacht wird. «Bist du aber naiv.»
Stehen Erwachsene vor einem Bild oder einer Skulptur, haben sie diese Lektion längst intus. Sie sagen selten, was sie darin sehen oder was dieses Kunstwerk in ihnen auslöst. Bindet uns jemand einen Bären auf, halten wir uns zurück, rasch darauf einzugehen. Meint er es wirklich so – oder macht er einen Witz? Macht sich da einer lustig über mich? Bin ich so naiv, ihm oder ihr zu glauben? Hier wird naiv zu blauäugig.
Naivität hat auch mit Unschuld zu tun. Jemand der frank und frei in einem Ding etwas Eigenes sieht, wie dieser Bub den Regenbogen, der hat noch die Unschuld, die nicht nur angelerntem Wissen vertraut. Leider ist Unschuld im nicht juristischen Sinn heutzutage zum leicht belächelten altmodischen Begriff geworden. Wenn ich an den roten Regenbogen aus Holz denke, dann wünschte ich, ich wäre noch ein Stück weit naiv.
Ursy Trösch