Die alte Sophie wohnte schon seit Jahrzehnten oben auf dem Berg und war durch nichts zu bewegen, ins gesellige Dorf hinab zu ziehen. Auch galt sie, milde ausgedrückt, als etwas schrullig. Wahrscheinlich wäre sie vor zwei- drei Jahrhunderten auf dem Scheiterhaufen gelandet.
Dennoch, man mochte sie, und manch einer, der eines guten Rates bedurfte, nahm den steilen Weg unter die Füsse, «um mal zu sehen was unsere Alte da oben macht, man weiss ja nie, ob es ihr noch gut geht, so ohne Telefon in der heutigen Zeit…» Es war zwar allgemein bekannt, dass es meist demjenigen, der die alte Sophie besuchen wollte, nicht so gut ging. Aber kaum einer plapperte später in der Stammtischrunde über die wahren Gründe seiner Wanderung. Wie eine Stillschweigende Vereinbarung, wurde dies genauso allgemein akzeptiert.
Kürzlich war es gar der Bürgermeister, der gegen Mittag Sophies Häuschen erreichte. Sie setzten sich auf die alte Bank in die warme Herbstsonne und schon bald kam der Bürgermeister in Erzählen. Er klönte über die und das, immer mehr zu tun, seine Familie rebelliere, nie sei er zu Hause, Sitzungen, Termine: «Ich kann’s einfach nicht allen recht machen, Sophie, ich könnte an sieben Orten gleichzeitig sein, sieben Dinge gleichzeitig tun und es gäbe immer noch etliche die nicht zufrieden wären. Heutzutage fehlt einfach die Zeit, um alles zu tun, was man tun sollte und möchte!»
«So ein Quatsch, Bürgermeister, das glaubst du doch selber nicht! Meinst du denn, die Zeit sei weniger geworden in all den Jahren? Sie schmelze? Sozusagen wie der Gletscher oben? Also Bürgermeister, bis jetzt hab ich dich immer für einen der Intelligenteren eurer Spezies gehalten, aber jetzt kommen mir doch wieder Zweifel.»
Nun das war typisch für Sophie, direkt und ehrlich, ob es nun ein Knecht oder ein Bürgermeister war. Statt einer Antwort abzuwarten ging sie ins Haus und kam mit einer Riesenschüssel wieder. Sie las ein paar grosse Steine auf, die haufenweise ums Haus verstreut lagen und füllte die Schüssel, bis sie randvoll war und kein Stein mehr darin Platz fand.
«Was glaubst du Bürgermeister, ist die Schüssel voll?» – «Aber sicher Sophie, das sieht doch jeder!»
«Hab ich`s mir doch gedacht, Bürgermeister», sie bückte sich, nahm eine Handvoll Kies und schüttete diesen über die grossen Steine in die Schüssel. Sie wiederholte diesen Vorgang noch dreimal, rührte vorsichtig in der Schüssel herum, bis die Kieselsteine zwischen den grossen Steinen auf den Boden kullerten.
«Sag Bürgermeister, ist die Schüssel jetzt voll?» Vorsichtig geworden, murmelte dieser «Wohl immer noch nicht…?», schon griff Sophie in den Haufen Sand neben ihr und liess diesen in die Schüssel rieseln, bis alle Zwischenräume aufgefüllt schienen. Als ob noch nicht genug der Demonstration wäre, nahm sie noch den Wasserkrug vom Tisch und füllte die Schüssel bis zum Überlaufen.
«Ja, ja Sophie, hab schon kapiert. Du meinst, wenn ich es richtig anpackte, hätte ich mehr Zeit zur Verfügung als ich glaubte. Mit etwas Geschick fänden sich noch einige Zwischenräume in meinem Terminkalender, nicht wahr?»
«Ach was, Bürgermeister, darum geht es doch nicht. Aber überleg dir mal, was passiert, wenn du nicht die grossen Steine zuerst platziert hättest. Hätten sie dann noch Platz in der Schüssel!?».
Langsam begriff der Bürgermeister, worauf Sophie hinaus wollte. «Und überleg dir mal, was denn deine grossen Steine in deinem Leben sind: Deine Gesundheit? Deine Familie? Deine Freunde oder sonst irgendetwas? Aber vielleicht hast du eben dein Leben schon viel zu sehr mit Kies und Sand gefüllt, hast irgendwelchen Nebensächlichkeiten den Vorrang gegeben und findest jetzt keine Zeit und Raum mehr für die wirklich kostbaren Dinge in deinem Leben? Könnte doch sein, oder?»
Dass der Bürgermeister den Abstieg um einiges leichtfüssiger bewältigte, lag eindeutig nicht nur an dem nun leeren Rucksack (sie hatten nämlich noch von der Flasche mit dem edlen Tropfen Roten und von dem würzigen Käse genossen. Obwohl dies eigentlich als kleines Präsent für Sophie gedacht war).
Aber vielleicht halfen auch die häufigeren Pausen mit, die er einlegte und bei denen er sich jedes Mal auf einen riesigen Stein hockte und in eine tiefe Nachdenklichkeit versank…
gefunden von pr