Natur: Der Eisvogel

Seit mich sogar ein Grossverteiler auf seine Papiertasche gesetzt hat, kennt mich mittlerweile jedes Kind. Mir solls recht sein.

Doch die wenigsten Menschen haben mich jemals schon wahrhaftig in meinem Lebensraum zu Gesicht bekommen. Dies liegt auch daran, dass unser Bestand gesamtschweizerisch nur rund 300-350 Brutpaare beträgt. Früher besetzten wir in intakten Flusslandschaften fast jeden Kilometer ein Revier. Wir wären dringend darauf angewiesen, dass Flussläufe und Bäche wieder natürlicher fliessen dürften. Nur dynamisch fliessende Gewässer schaffen den für uns notwendigen Lebensraum.

Doch ganz die Hoffnung aufgegeben hatte ich nie, und als ich diesen Frühling der Thur bei Thalheim entlang geflogen bin – Pfiff, Pfiff, Pfiff – welch Ueberraschung, da tut sich ja endlich einiges in Sachen Wohnungsangebot!

Wenn jetzt noch die Wasserqualität etwas besser würde – als Fischliebhaber bin ich nämlich ganz besonders auf saubere Gewässer angewiesen – dann müsste ich mir ernsthaft überlegen, an diesem Abschnitt der Thur oder an einem Altlauf eine Familie zu gründen. Ein bisschen Ansprüche stelle ich aber schon an meine Wohnung!

Haben Sie mein Inserat gelesen?

Dringend gesucht sandig-lehmiges Bauland zwecks Gründung einer etwa acht- bis neunköpfigen Familie; ich bevorzuge eine Steilwand, möglichst etwa zwei Meter über dem Wasserspiegel liegend und an einem mässig schnell fliessenden, fischreichen Fluss oder Bach. Ich beabsichtige dort eine etwa vierzig bis achtzig Zentimeter lange, leicht ansteigende Brutröhre zu graben, an deren Ende ich einen Kessel von rund 17 Zentimeter Durchmesser und etwa zwölf Zentimeter Höhe anlege. Den Brutkessel kleide ich gerne mit Fischgräten aus. Ich bin zwar kinderliebend, aber menschlicher Lärm und Störungen ums Haus herum sind mir ein Greuel und können mich veranlassen – ohne zu brüten – wieder auszuziehen! Ich freue mich über eine strukturreiche Umgebung mit Tümpeln, Altarmen von Flüssen, Kiesgrubenweiher und Bächlein.

Bei mir kommt täglich Fisch «auf den Tisch»

Bei der Ausübung meines liebsten Steckenpferdes, dem Stosstauchen nach Fischen, erleichtern mir Sitzwarten in Form von Aesten und Schilf welches über das Wasser ragt oder Steine am Ufer die tägliche Jagd erheblich. An Stellen, wo zwar das Nahrungsangebot gut ist, jedoch Ansitzwarten fehlen, sieht man mich manchmal auch in der Luft rüttelnd, d.h. ganz schnell mit den Flügeln schlagend und über dem Wasser stehend nach Fischen spähen.

Mit Vorliebe erbeute ich vier bis fünf Zentimeter lange Fische. Ich bin kein Kostverächter. Ich ernähre mich von Groppen, Stichlingen, Rotaugen und jungen Bachforellen. Den Tagesbedarf schätze ich auf 16 bis dreissig Gramm, das sind 14 bis 25 Fischchen und entspricht gerade etwa der Hälfte meines eigenen Gewichtes.

Unverdauliche Fischknochen würge ich ein bis zwei Stunden nach der Mahlzeit als Gewölle wieder heraus. Zur Abwechslung erbeute ich auch mal Libellenlarven und andere Wasserinsekten.

Falls Sie die Distanz von etwa tausend Meter nicht wesentlich unterschreiten und sich ruhig verhalten, können Sie mir mit einem Feldstecher ausgerüstet, sogar beim Fischen zusehen.

Brautgeschenke läuten die Paarungszeit ein

Im Februar/März lege ich meine angeborene Aggressivität langsam ab, denn jetzt gilt es sich im besten Lichte zu zeigen, falls man einem Weibchen gefallen und eine Familie gründen möchte. Als prächtig gewandeter Kavalier überreiche ich meiner Auserwählten Brautgeschenke in Form von kleinen Fischchen. Die Menschen sagen diesem Verhalten «Balzfütterung».

Je zahlreicher die Brautgeschenke ausfallen, desto eher kann ein Weibchen damit rechnen, dass ich auch während der anstrengenden Brutsaison und der Jungenaufzucht der richtige Partner bin.

Das Eisvogelkarussel

Auf die Erziehung meines Nachwuchses und Sauberkeit in der Brutröhre lege ich grossen Wert. Ist ja auch nötig, in so einer engen Wohnung.

Dazu habe ich das Eisvogelkarussel erfunden: Meine Kids warten hintereinander aufgereiht in der engen Röhre auf meine Futterfische. Nachdem das Vorderste einen Fisch, den Kopf des Fisches zuerst, geschluckt hat, erledigt es auch gleich sein Geschäft am Ausgang der Röhre und stellt sich danach wieder hinten an. So geht das den ganzen Tag über. Jeder kriegt auf diese Weise etwa die gleiche Menge Futter.

Wenn Sie mich also mal mit einem Fisch im Schnabel entdecken, so brauchen Sie nur zu schauen, welches Ende des Fisches aus meinem Schnabel herausschaut. Ist es die Schwanzflosse, dann ist der Fisch für mich selber gedacht, ist es aber der Kopf des Fisches, dann habe ich ein passendes Grundstück gefunden, eine Familie gegründet und bin auf dem Weg, meine gefrässige Schar zu füttern!

Für die Dorfposcht Thalheim,
Andy Widmer, Altikon

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