Zeit ist Geld – einer der scheusslichsten Sätze unserer Zeit. Unsere Tage sind genau kalkuliert, unsere Arbeitszeit aufgeteilt in Einheiten von so und soviel Leistung. Die Produktion einer Packung Tabletten darf eine genau berechnete Anzahl Minuten dauern – für das «Herstellen» eines Zeitungartikels oder einer Radiosendung stehen abgezählte Stunden zur Verfügung. Seit Computer fast alles erfassen, werden Arbeitnehmer wie Produktionsmaschinen berechnet. Keine Zeit zum Atmen, keine Zeit zum Träumen, keine Zeit für einen Gedankenflug.
Gedankenflug – Gedanken frei schweifen lassen. In der Schule haben wir das Lied «Die Gedanken sind frei» gesungen. Dass die Kinder das heute noch singen, bezweifle ich. Das Lied ist ein bisschen verstaubt, wahr ist es immer noch. Es erzählt von den Gedanken, die über die Wirklichkeit hinaustragen, über Schatten und Kerker. Auch in Verdis «Nabucco» singen die Gefangenen «Va pensiero sull’ali dorate – steig Gedanke auf goldenen Flügeln».
Wir heutigen Menschen sind auch Gefangene. Wir sind gefangen in der exakt kalkulierten Zeit. Doch wie sagt das Lied: «Und sperrt man mich ein im finsteren Kerker, das alles sind rein vergebliche Werke, denn meine Gedanken zerreissen die Schranken und Mauern entzwei: die Gedanken sind frei.»
Ich meine, wir sollten im Lauf unseres stressigen Alltags regelmässig Gedankenflüge machen. Ich rufe nicht auf zu «Arbeitsverweigerung». Doch wenn wir uns immer wieder einmal einen Gedankenflug erlauben in eine andere Zeit, an einen andern Ort, in eine Zwischenwelt, wenn uns Gedanken wegführen von der augenblicklichen Tätigkeit und uns innehalten lassen, dann arbeiten wir besser weiter. Gedankenflüge öffnen die Augen, sie machen uns offen für neue Impulse und Ideen, sie beflügeln uns. Eigentlich sollten Arbeitgeber Zeiträume für Gedankenflüge bewusst einbauen in unsern Arbeitsablauf, es käme dem Produkt, ihrer Firma und somit ihrem Geldbeutel nur zu Gute.
Bis es so weit ist, möchte ich von jetzt an in der Dorfposcht anstiften zu einem Gedankenflug – kommen Sie mit!
Ursy Trösch