Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser

Landbote 29. August 1998: «Eine Tupolew 154 verunglückt beim Start in Ecuadors Hauptstadt Quito. 79 Menschen starben.» Gelesen und vergessen. Ich, jedenfalls. Das heisst, als ich die Überschrift lese, denke ich noch: Wenn’s kein Billigflug ist, dann sicher eine russische Maschine. Typisch! So was kennt man ja. Ich blättere weiter zum Sportteil.

Wenige Tage später passiert das Unfassbare. Der Swissair MD-11 Flug 111 von New York über Genf nach Zürich kommend stürzt bei Peggys Cove ins Meer. Alle Passagiere und Besatzungsmitglieder werden getötet. Als ich die Nachricht am Morgen im Radio höre kann ich es nicht glauben. Nein, keine Swissair. So etwas passiert einfach nicht. Und dann doch die Gewissheit… Gebannt vor dem Fernseher sitzend, den Experten zuhörend fühle ich mit den Angehörigen. Schaudernd stelle ich mir die letzten fünf Minuten der Passagiere vor. Schliesslich bin ich die Strecke auch schon geflogen. War’s damals eigentlich auch eine MD-11? Jedesmal läuft es mir kalt den Rücken hinab, wenn ich wieder eine Todesanzeige in der Zeitung finde. Es geht mir nahe, nimmt mich mit. Kein Billigflug, keine russisches Flugzeugmodell. Nein, Schweizer Wartung, eine McDonald-Douglas-Maschine.

Seltsam, dass die Menschen in Ecuador mich weniger berühren. Und beschämend. Denn auch diese Passagiere hatten Angehörige und Familie. Die Ausrede, keinen persönlichen Bezug zu ihnen gehabt zu haben, wird nicht gelten gelassen. Schliesslich kannte ich von den Schweizer Passagieren auch keinen einzigen. Aber was macht diese Betroffenheit, diese Erschütterung dann aus? Sind es wirklich die Menschen, oder hat es nicht einen tieferen Hintergrund? War die Swissair nicht das letzte Statussymbol, das die Schweiz im Ausland hatte, seit dem an der Bahnhofstrasse nicht mehr alles Gold ist was glänzt, oder nicht mehr alles glänzt, was Gold ist? Beim Kundtun eines gewissen Stolzes auf das Triple-A der UBS wird man mindestens hinter vorgehaltener Hand als Antisemit schubladisiert, das Inselverhalten in Sachen Europa wird nicht nur mehr im europäischen Ausland kritisiert und wenn man über längere Zeit Herrn D’Amato zuhört, läuft man Gefahr, sich zu ertappen, wie man darüber beschämt ist, Schweizerbürger zu sein. War da die Swissair nicht das letzte makellose Aushängeschild? Das Personal stets korrekt und höflich, die Flugzeuge immer gut gewartet und sauber, die Piloten bestens ausgebildet (es ist Schweizern vorbehalten, einen solchen Job bei der Swissair zu erhalten), nicht ganz billig, aber gehört das nicht zum guten Ton in einem der reichsten Ländern der Welt? Ausserdem weiss man, was man für das Geld hat!

Wird sich daran jetzt etwas ändern? Keine Arroganz mehr gegenüber Billigflügen und russischen Flugzeugmodellen? Anteilnahme auch an Katastrophen am anderen Ende der Welt? Es ist zu hoffen. Sicher spürbar ist aber eine Sensibilisation solchen Katastrophen gegenüber!

Rahel N. Zürcher

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